Die neue Normalität in der Supply Chain
Das Jahr 2020 ist nicht das erste, in dem unterbrochene Lieferketten eine globalisierte Wirtschaft beeinträchtigten. Die stark ineinandergreifenden Prozesse der Supply Chain führen zu Abhängigkeiten, die die Welt schon während der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 oder der Reaktorkatastrophe 2011 im japanischen Fukushima herausgefordert hat. Doch ist die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 für viele Unternehmen eine Zäsur. Als mit China monatelang eine der größten Volkswirtschaften der Erde stillstand, führte das in Deutschland und vielen anderen Industrieländern flächendeckend zu einem Mangel an Rohstoffen, Vorprodukten und Komponenten. Dieser Effekt trat bereits zu einer Zeit ein, als Deutschland noch einige Wochen vom Lockdown entfernt war.
Betriebsunterbrechungen gehören zu den Top-Risiken
Politische Konflikte, Unwetter, Umweltkatastrophen, Cyberangriffe oder technische Störungen – die Liste der Situationen mit disruptivem Potenzial für die Versorgung ist lang. Nicht umsonst führen Betriebsunterbrechungen, bei denen die Lieferketten eine große Rolle spielen, in Deutschland seit Jahren das Ranking der Unternehmensrisiken an. Die globale Arbeitsteilung basiert auf dem präzisen und reibungslosen Zusammenspiel aller Elemente. Je komplexer das System und je mehr auf Effizienz getrimmt, desto störanfälliger ist es. Kollabieren logistische Knotenpunkte wie Häfen oder Flughäfen, wie es während der Corona-Pandemie zu beobachten war, kommt es zu Beschaffungsengpässen. Ein einziges fehlendes Teil kann schnell die gesamte Produktion lahmlegen.
Für einige Unternehmen und manche Branchen kann die Reduktion dieser Komplexität ein Weg aus dem Dilemma sein. Wo möglich und sinnvoll, werden Lieferketten verkürzt, die Produktion aus dem Ausland wieder nach Hause geholt und regionalisiert. Mag sich dieser Wechsel des Produktionsstandorts bei einfachen Produkten schnell umsetzen lassen, würde das beispielsweise bei spezialisierten Produkten wie Medikamenten oder Hightech-Komponenten Jahre dauern. Deshalb werden die Erfahrungen der vergangenen Monate für die meisten Unternehmen eher das Signal sein, ihre Lieferkettenstrategien zu überdenken. Sie versuchen, sich mehr auf mögliche Störungen vorzubereiten und sich mit der neuen Normalität in der Supply Chain zu arrangieren.
Megatrend in der Logistik: Mehr Transparenz in der Lieferkette
In einem Whitepaper zu Lieferketten nach Corona bringt es der Logistik-Experte Professor Richard Wilding von der Cranfield School of Management im britischen Bedforshire auf den Punkt: „Wenn Ihre Supply Chain in der neuen Normalität genauso aussieht wie vor der Corona-Krise, machen Sie wahrscheinlich etwas falsch." Seien Produktions- und Lagerstandorte von Lockdowns und anderen Maßnahmen betroffen, führe das zu besser verteilter Produktion, Lagerhaltung, zur Zweigleisigkeit in der Beschaffung, dem Dual Sourcing („Doppelquellenbeschaffung“), und zur Verlagerung von Funktionen und Prozesse näher ans Unternehmen, dem Re-Shoring. Grundsätzlich müssten sich Supply Chain-Manager auf mehr Volatilität und schnell ändernde Vorlieben der Verbraucher mit flexiblen und alternativen Transportströmen und Lagernetzwerken einstellen.
Wenn Ihre Supply Chain in der neuen Normalität genauso aussieht wie vor der Corona-Krise, machen Sie wahrscheinlich etwas falsch.
Logistik-Experte Professor Richard Wilding
von der Cranfield School of Management im britischen Bedforshire
Idealerweise genießt die Lieferkette strategische Priorität. Experten empfehlen sogar, das gesamte Betriebsmodell darauf abzustimmen. Die Maßnahmen reichen über den Aufbau einer eigenen Steuerungsfunktion, die Definition aller Schnittstellen und Prozesse, eine kontinuierliche Schulung und Beurteilung der Mitarbeiter bis zum Einsatz technischer Hilfsmittel. Kernziel dabei ist, die Transparenz in der Lieferkette zu erhöhen. Ein Unternehmen muss in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit zu klären, welche Lieferanten ausgefallen sind, welches Material fehlen könnte, welche Produkte es benötigt und welche Kunden vom Engpass betroffen sein werden. Denn gerade hier zeigen sich in Krisenzeiten die Versäumnisse. In der Vergangenheit standen bei der Optimierung der Lieferketten Aspekte wie Wachstum, Auslastung und die Reduktion von Kosten sowie Bestand im Fokus, während Monitoring und aktive Steuerung vernachlässigt wurden. Gerade dabei helfen die auf digitalen Technologien basierenden Tools, die mit innerbetrieblichen und zwischenbetrieblichen Informationssystemen modernes Supply Chain-Management ermöglichen.
Bei Digitalisierung und Innovationen besteht Nachholbedarf
Dass bei der digitalen Transformation noch ein gutes Stück Weg vor den mittelständischen Logistikunternehmen liegt, zeigt eine Studie der Bundesvereinigung Logistik (BVL) vom Frühjahr 2020. Demnach versprechen sich die „Logistiker“ von der Digitalisierung hohe Chancen, beispielsweise in Form von Kostensenkungen oder Erlössteigerungen und sehen einen erhöhten Innovationsdruck auf sich zukommen. Der Blick auf den tatsächlichen Stand der Digitalisierung in den Unternehmen zeigt aber, dass Wille und Wirklichkeit auseinanderklaffen: Obwohl die Befragten dem Thema hohe Relevanz beimessen, wird relativ wenig umgesetzt. Das gilt für aus Expertensicht relativ „einfache“ Themen wie RFID – Transpondersystemen zum automatischen Identifizieren und Lokalisieren von Objekten –ebenso wie für „Zukunftsthemen“, beispielsweise Künstliche Intelligenz in Verbindung mit Business Analytics. Auch die digitale Transformation der Geschäftsmodelle steht bei vielen Logistikern nicht im Fokus. Den Nachholbedarf der mittelständischen Logistikunternehmen bestätigt auch Professor Michael Schüller von der Universität Osnabrück im Interview mit der Deutschen Leasing.
Für die neue Normalität in der Supply Chain ist keine Revolution erforderlich, sondern die Bereitschaft, sich auf Veränderungen kontinuierlich einzustellen. Die zutage getretenen Schwächen müssen beseitigt, die digitale Transformation vorangetrieben und Innovationen ausprobiert werden. Der Neustart nach dem ersten Schock der Pandemie bietet der Branche eine echte Chance, sagt Dieter Behrens, Mitglied der Geschäftsleitung Deutsche Leasing AG, wenn sie das Motto für die Zukunft der Logistik beherzigen: „Es gibt kein ‚Zurück zum Bewährten‘, sondern nur ein: ‚Zurück in die Zukunft!‘“
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