spectrum: Der Einsatz von KI führt im Unterschied zur bisherigen „smarten Technik“, die mit programmierten Routinen auf Situationen reagiert, zu selbstlernenden und sich weiterentwickelnden Systemen. Wie funktioniert dieses „Selbstlernen“ einer Maschine?
Hans Dieter Schotten: Am Beispiel eines Netzes erklärt, brauchen wir zunächst eine Intelligenz, die Anomalien erkennt. Das kann ein Angriff sein, aber auch eine Lastspitze im Mobilfunknetz, weil Menschen, die einem Feuerwerk zuschauen, gleichzeitig viele Bilder davon an Freunde versenden. Anomalien können bekannte, aber auch bisher unbekannte Vorkommnisse sein. In einem zweiten Schritt treten dann zwei interagierende Schleifen in Kraft. Bei der ersten wird die Anomalie klassifziert, und Gegenmaßnahmen werden ausgesucht und eingeleitet. Die zweite Schleife kontrolliert, ob die Gegenmaßnahmen Erfolg hatten. Dabei lernt das System, ob die Situation richtig erkannt und ob die passende Gegenmaßnahme eingesetzt wurde. Wenn nicht, wird eine andere ausgewählt oder – in Kombination bestehender – eine neue Gegenmaßnahme geschaffen. Das ist besonders dann wichtig, wenn sich mehrere Anomalien überlagern, denn es ist unmöglich, für jede mögliche Kombination von Anomalien im Vorhinein die passende Gegenmaßnahme zu bestimmen.
spectrum: Was wäre ein konkretes Beispiel für eine Anwendung von KI in der Produktion?
Hans Dieter Schotten: Produktionsbetriebe hängen kritisch von der Vernetzung ab, und daher muss diese höchst verfügbar, flexibel und sicher sein. Dabei sind insbesondere die automatisierte Anpassung an neue Anwendungsanforderungen, die vorausschauende Wartung und die zuverlässige Erkennung und Abwehr von Angriffen von ganz zentraler Bedeutung. In allen Fällen wird in der Zukunft KI helfen. Ein anderes Beispiel für eine Anwendung von KI in der Produktion wäre die Beobachtung und Analyse von Betriebsdaten ganzer Maschinenpopulationen. Nehmen wir einmal an, in einer Anlage ist eine große Anzahl von baugleichen Pumpen in Betrieb. Durch Sensorik und Vernetzung stellen wir fest, dass bei einer bestimmten Anzahl dieser Pumpen Anomalien auftreten. Durch diese gleichzeitige zentrale Beobachtung kann ein zusätzlicher Wartungszyklus für alle Pumpen eingeplant werden, da bei den ersten der Pumpen bereits Alterungserscheinungen auftreten. Die Vernetzung und die dadurch möglichen Auswertungen helfen dabei, Produktionsunterbrechungen zu vermeiden.
spectrum: Ist eine Branche besonders für die Anwendung von KI geeignet, oder ist das ein Thema für die gesamte Bandbreite der industriellen Produktion?
Hans Dieter Schotten: Die Anwendung von KI ist überall in der produzierenden Industrie im Moment eines der Topthemen. Die erfolgreiche Umsetzung von Industrie-4.0-Konzepten hängt kritisch davon ab, KI, Vernetzung und Automatisierung zusammenbringen zu können. Dies gilt für beide Extreme in der Produktion: Eine extrem auf Effzienz getrimmte Massenproduktion benötigt KI ebenso wie eine besonders flexible Produktion mit Losgröße 1. So gesehen ist die Vernetzung für die gesamte produzierende Industrie von großer Bedeutung, die mit der Größe und der Komplexität des Unternehmens noch wächst.
spectrum: Wie wird die Produktion im Jahr 2030 aussehen: Menschenleere, von einer zentralen Intelligenz gesteuerte Fabriken?
Hans Dieter Schotten: Ich glaube nicht daran, dass der Einsatz von KI Arbeitsplätze in großer Zahl kosten wird. Bei der Entwicklung von Technologien zur Kontrolle und Steuerung in der Industrie gilt der Mensch immer als letzte Instanz. Die Routineaufgaben sollen weniger werden, natürlich auch die Effzienz steigen, aber am Ende wird immer der Mensch die Kontrolle behalten. Das heißt aber nicht, dass Menschen nicht ersetzt werden. Automatisiert wird schon seit Jahrhunderten. Doch ob wir an die Weberaufstände, die Maschinenstürmer oder an das „Fräulein vom Amt“ denken, das durch Automatisierung ersetzt wurde: In den bisherigen industriellen Revolutionen gingen zwar Berufsgruppen verloren, allerdings entstanden auch immer neue Berufe, und am Ende war der Bedarf an menschlicher Arbeit in der Regel größer und vielseitiger. Eine Garantie, dass das auch jetzt so kommen wird, gibt es nicht. Ich sehe aber auch keinen Hinweis darauf, dass es diesmal anders wäre. Gerade für die Flexibilisierung der Produktion werden mehr zusätzliche Fachkräfte gebraucht, als es Automatisierung und KI kompensieren könnten.
spectrum: Brauchen Unternehmen große Entwicklungsabteilungen und Forschungsbudgets, um KI anzuwenden, oder gibt es hier schon Lösungen von der Stange?
Hans Dieter Schotten: Es wäre schlecht, wenn KI nur einsetzen könnte, wer zuvor eine große KI-Abteilung aufgebaut hat. Das werden sich gerade mittelständische Unternehmen nicht leisten können. Deshalb ist es aktuell ein ganz klares Ziel der Forschung, das Potenzial von KI auch Unternehmen zu erschließen, die sich diese Investitionen nicht leisten können. Dabei soll die Lösung langfristig auch nicht sein, dass diese Unternehmen sich an Forschungseinrichtungen wie das DFKI oder eines der Fraunhofer-Institute wenden müssen. Ziel der Grundlagenforschung im Bereich KI muss die Bereitstellung von Methoden und Tools sein, die es möglichst allen Unternehmen erlauben, das Potenzial von KI nutzen zu können. Aktuell werden diese Tools entwickelt oder existieren zum Teil schon, die relativ leicht auch von einer kleinen IT-Abteilung eingesetzt werden können. Möglichkeiten gibt es dabei viele, beispielsweise Plattformen, die KI als Dienst anbieten, über Plug-ins für bestehende Betriebssoftware oder eben intelligente Produkt-Dienst-Kombinationen. Schlüssel für diese KI-Ertüchtigung der gesamten Industrie ist aus meiner Sicht eine Forschung, bei der KI-Experten und -Anwender eng zusammenarbeiten.
spectrum: Wie hat man sich solch eine Produkt-Dienst-Kombination vorzustellen?
Hans Dieter Schotten: Es gibt beispielsweise Hersteller, die anbieten, in eine bereits im Betrieb befndliche Pumpe nicht-invasive Sensoren zu integrieren, die ihren „Gesundheitszustand“ beobachten. Die Daten werden dann an eine beim Hersteller laufende KI übermittelt, die eine Voraussage und vielleicht auch das Management der Wartungszyklen der Pumpe vornimmt.
spectrum: Haben die Unternehmen keine Probleme damit, Daten herauszugeben, die Rückschlüsse auf ihre Produktion zulassen?
Hans Dieter Schotten: Die Unternehmen müssen diesem Datentransfer natürlich zustimmen, das ist Teil der Vereinbarung. Insgesamt ist die Frage, wer welche Daten nutzen darf, eines der großen Themen der Digitalisierung. Am Beispiel der Automobilindustrie lässt sich das gut nachvollziehen. Autos bestehen zu einem großen Teil aus Elementen von Zulieferern. Dürfen diese nun die Daten von beispielsweise millionenfach verbauten Pumpen zentral sammeln und damit intelligente Produkt-Dienst-Kombinationen schaffen? Und brauchen sie zur Nutzung dieser Daten die Zustimmung der Fahrzeughersteller oder der Fahrzeughalter oder der Fahrer? Das ist eine aktuell sehr spannende Situation.
spectrum: Das ist eine Frage, mit der wir uns als Unternehmen, das Leasing anbietet, vor dem Hintergrund von Konzepten wie Pay-per-Use zurzeit auch beschäftigen.
Hans Dieter Schotten: Solche Konzepte sind aus zweierlei Gründen zukunftsweisend. Erstens ist die Rechtslage hinsichtlich der Daten dabei zumindest etwas einfacher, denn die Maschinen und Geräte verbleiben ja im Eigentum des Leasingunternehmens. Zweitens haben wir über ähnlich wirkende Subventionsmodelle im Mobilfunk gelernt, dass sich damit Innovationszyklen am Markt schnell durchsetzen lassen. Die geringen Kosten für den Austausch der Geräte haben die Einführung neuer Technologien deutlich beschleunigt. Aufgrund dieser Erfahrung erwarte ich, dass die Zukunft leasingähnlichen Modellen gehört, da sie einen ganz klaren Vorteil für das Einführen von Innovationen bedeuten.
spectrum: Wie steht der KI-Standort Deutschland im internationalen Vergleich da?
Hans Dieter Schotten: Was aktuell auf der ganzen Welt im Bereich KI geschieht, ist schwer zu erfassen. Mein Eindruck ist aber, dass wir in Deutschland hinsichtlich industrieller Anwendungen gut dastehen. Wir haben – unter anderem mit dem DFKI, aber auch insgesamt mit der Forschung – eine aktive Szene, die insbesondere eng mit der Industrie und Anwendern zusammenarbeitet. Das ist unsere spezifsche Stärke. Natürlich gibt es Bereiche, in denen Großkonzerne zig Milliarden einsetzen und die großen Internetkonzerne vom Zugriff auf massenhafte Daten proftieren. Mit solchen Ressourcen, aber auch durch die Abwesenheit regulatorischer Hürden und ohne einen unserem Verständnis entsprechenden Datenschutz, ergeben sich in manchen Ländern technologische Möglichkeiten, die wir hier nicht nutzen können oder wollen. Deutschland hat aber eine gute Startposition, muss allerdings jetzt drauf achten, dass es den starken internationalen Wettbewerb mitgestaltet und mit vorne dabei bleibt.
spectrum: Benutzen Sie Siri, Alexa und Co.?
Hans Dieter Schotten: Ehrlich gesagt, nein. Was den persönlichen Einsatz neuer Technologien angeht, bin ich ein „late adopter“ und versuche es privat auch zu vermeiden, breite Datenspuren zu hinterlassen. Das liegt keineswegs an einer grundsätzlichen Missbrauchsvermutung, sondern an der Freude an altmodischer direkter und persönlicher Kommunikation. Ich beschäftige mich seit Langem mit Künstlicher Intelligenz und schreibe gerne Briefe mit einem Füller. Das eine schließt das andere nicht aus.
Die Fragen stellte Michael Hasenpusch, Redaktionsteam